Pflegende Angehörige werden vergessen
- VdK-Studie deckt Notlage der häuslichen Pflege auf
- Sozialverband VdK fordert nutzbare Entlastungsangebote durch ein Nächstenpflege-Budget und Ausbau der unabhängigen Pflegeberatung
- Lohnersatzleistungen und Anerkennung aller Sorgearbeit auf die Rente benötigt
In Baden-Württemberg werden 80 Prozent aller pflegebedürftigen Personen zu Hause von ihren Angehörigen gepflegt, das sind 377.640 Menschen. Doch obwohl die pflegenden Angehörigen einen wertvollen Beitrag für die Gesellschaft leisten, fokussiert sich die Politik hauptsächlich auf die stationäre Pflege. Die Folge sind massive Missstände in der häuslichen Pflege. Die VdK-Pflegestudie, durchgeführt von der Hochschule Osnabrück, liefert belastbare Daten über die aktuelle Situation der häuslichen Pflege in Deutschland. Auch für Baden-Württemberg liegt nun eine repräsentative Auswertung vor.
„Die bislang größte Studie zur Nächstenpflege zeigt, dass jetzt endlich etwas passieren muss, damit die häusliche Pflege in der Zukunft nicht wegbricht“, fasste Hans-Josef Hotz, Landesverbandsvorsitzender des Sozialverbands VdK Baden-Württemberg, die Ergebnisse der VdK-Pflegestudie am Donnerstag, 19. Mai, bei der Landespressekonferenz zusammen. Die Studie offenbart, dass bestehende Entlastungsangebote wie Tages- und Nachtpflege, Kurzzeitpflege, Verhinderungspflege oder Unterstützung im Haushalt bei den Betroffenen gar nicht ankommen: Durchschnittlich verfallen 80 Prozent der Leistungen ungenutzt. Schätzungen zufolge sparen die Pflegekassen so mindestens zwölf Milliarden Euro jährlich ein.
Die Gründe hierfür sind vielfältig: Teilweise stehen vor Ort gar keine entsprechenden Angebote zur Verfügung. Auch die bürokratischen Hürden sowie die Zuzahlungen sind für die Betroffenen oft zu hoch. Zudem sind die Beträge für unterschiedliche Leistungen, die teilweise untereinander angerechnet werden können, völlig unübersichtlich.
„Um die pflegenden Angehörigen bestmöglich zu unterstützen, müssen die bestehenden Hilfen auch schnell und tatsächlich zur Verfügung stehen. Unsere Studie hat beispielsweise ergeben, dass nur 23 Prozent der pflegenden Angehörigen den Entlastungsbetrag von 125 Euro pro Monat in Anspruch nehmen. Dieses Angebot soll eigentlich besonders niederschwellig sein. Leider gibt es zu wenig Angebote zur Unterstützung im Alltag, da die landesrechtlichen Voraussetzungen zur Anerkennung zu hoch sind“ bemängelt Hotz und ergänzt: „Der Entlastungsbetrag muss unbürokratischer werden! Darüber hinaus muss er auch für Hilfen von Nachbarn verwendet werden können – so wie es aktuell noch befristet bis Ende Juni dieses Jahres aufgrund der Coronavirus-Pandemie möglich ist.“
Der Sozialverband VdK fordert weiterhin ein Nächstenpflege-Budget, in dem alle Leistungen gebündelt werden. So kann der Betroffene selbst entscheiden, für welches Entlastungsangebot er sein Budget nutzen möchte. Auch Zuzahlungen können damit kompensiert werden.
Ein wichtiger Anlaufpunkt für pflegende Angehörige sind die Pflegestützpunkte, da diese unabhängig von wirtschaftlichen Eigeninteressen beraten können. So zeigt die Studie, dass nach einer Pflegeberatung mehr Entlastungsangebote in Anspruch genommen werden. Jedoch stehen in Baden-Württemberg derzeit in der Regel nur ein Pflegestützpunkt pro Stadt- bzw. Landkreis zur Verfügung. Hotz: „Das ist zu wenig, um den Bedarf zu decken! Deswegen fordern wir einen Pflegestützpunkt für 20.000 EinwohnerInnen!“
Für bessere Bedingungen in der häuslichen Pflege fordert der Sozialverband VdK darüber hinaus eine finanzielle Absicherung für pflegende Angehörige, unter anderem durch eine regelmäßige Dynamisierung des Pflegegeldes, aber auch durch einen steuerfinanzierten Lohnersatz und ein Rückkehrrecht in Vollzeit. Denn laut der VdK-Pflegestudie sind bundesweit 56 Prozent der pflegenden Angehörigen erwerbstätig. Die aktuellen Pflegezeitmodelle lösen das Problem nicht, da der finanzielle Ausgleich fehlt. „Das ist völlig realitätsfremd“, kritisierte Hotz und fragte: „Wer kann es sich auf Dauer leisten, einen Angehörigen zu pflegen und nicht mehr zu arbeiten? Deswegen muss eine steuerfinanzierte Lohnersatzleistung analog des Elterngeldes für pflegende Angehörige eingeführt werden!“
Eine große Zahl von pflegenden Angehörigen reduziert für ihre Pflegetätigkeit teilweise einschneidend ihre Arbeitszeit. „Das macht sich bei der Rente bemerkbar!“, führte Hotz aus. Rentenrechtlich werden viele pflegende Angehörige jedoch nicht berücksichtigt, da sie die aktuell geltenden Voraussetzungen nicht erfüllen. So bekommen bundesweit nur rund 894.000 pflegende Angehörige Rentenpunkte – davon 88 Prozent Frauen. Dabei gibt es in ganz Deutschland 3,3 Millionen Menschen, die ambulant versorgt werden.
Der Sozialverband VdK fordert daher mehr Rente für pflegende Angehörige. Hierfür müssen die Zugangsvoraussetzungen zur Berücksichtigung bei der Rente herabgesetzt werden, zum Beispiel durch Rentenpunkte auch für Pflegegrad 1 sowie für pflegende Angehörige in Rente. „Die Pflege von Angehörigen muss bei der Rente berücksichtigt werden – auch im Rentenalter. Jede 5. Frau ist im Alter armutsgefährdet. Sowohl für Frauen im Erwerbstätigen-Alter als auch für Rentnerinnen wäre daher eine Anrechnung ihrer Sorgeleistung auch eine Vorsorge gegen Altersarmut!“, erklärte Hotz.
Die VdK-Pflegestudie zeigt, dass die meisten Menschen in Deutschland zu Hause gepflegt werden wollen. Nur zehn Prozent können sich vorstellen, in einem Pflegeheim versorgt zu werden. Bei den Pflegebedürftigen sind es sogar nur 2,3 Prozent. Um die Erfüllung dieses Wunsches auch für die Zukunft zu sichern, startet der Sozialverband VdK die Kampagne #naechstenpflege zur Stärkung der häuslichen Pflege und setzt sich unter dem Motto „Nächstenpflege braucht Kraft und Unterstützung“ für bessere Bedingungen in der häuslichen Pflege ein.
„Ohne die pflegenden Angehörigen bricht die Pflege in Deutschland zusammen. Menschen, die ihre Nächsten zu Hause pflegen, haben aber keine Zeit, um auf die Straße zu gehen. Deswegen geben wir ihnen eine Stimme“, sagte Hotz zum Ende der Landespressekonferenz und lud die Journalistinnen und Journalisten ein, ihn zum Eckensee zu begleiten. Mit einer Demonstration ohne Menschen vor dem dortigen Schicksalsbrunnen verbreitete der VdK-Landesverband die Botschaften seiner pflegenden Mitglieder.