Kategorie Pflege Pflegeversicherung

„Unsere aufsuchende Begutachtung ist ein Schatz“

Hubert Seiter ist als Patientenvertreter alternierender Vorsitzender des Medizinischen Dienstes Baden-Württemberg. Und das ist bundesweit einmalig. In allen anderen Bundesländern stellen Vertreter der Krankenkassen den Vorsitz. Ein Gespräch über die Aufgaben der medizinischen Dienste (MDkurz fürMedizinischer Dienst) nach der Reform 2020. Darüber, dass der Medizinische Dienst die häusliche Pflege so gut kennt, wie kaum eine andere Institution und was das für seine künftige Rolle bedeuten könnte.

Ein älteres Paar steht lachend nebeneinander und begrüßt eine junge Frau, deren Gesicht noch rechts im Bild zu sehen ist.
400.000 Begutachtungen schaffen die 700 Pflegefachkräfte des MD im Jahr. © iStock.com/svetikd

Herr Seiter, ganz kurz, für alle, die den Medizinischen Dienst (MD)noch nicht so gut kennen: Was sind die Aufgaben des MD?

Erstens prüft er regelmäßig die Qualität der Pflege- und Betreuungseinrichtungen. Zweitens überprüfen Sozialmediziner die Notwendigkeit und die Dauer von einzelnen Krankenhausbehandlungen, nehmen Stellung zu Behandlungsfehlern, zur Qualität von Krankenhäusern und insbesondere auch zur Notwendigkeit von Hilfsmitteln und Rehamaßnahmen. Ein dritter Schwerpunkt ist die Beurteilung des Pflegegrads und die Pflege zu Hause.

Welche Aufgaben hat der MD denn in der häuslichen Pflege?

Hauptaufgabe ist die Feststellung des Pflegegrads der Pflegebedürftigen. 400.000 Begutachtungen schaffen unsere 700 Pflegefachkräfte im Jahr. Davon mehr als zwei Drittel im häuslichen Umfeld, circa ein Drittel erfolgt nach Aktenlage, per Telefon oder per Videokonferenz. Dabei handelt es sich meistens um Wiederholungs- oder Höhergruppierungsanträge. 

Eine Pflegebegutachtung dauert in der Regel etwa eine Stunde. Das heißt also: Unsere Pflegefachkräfte kennen die häusliche Pflegesituation so gut wie niemand anderes im Land. Die Pflegefachkraft ist im Gespräch mit dem Menschen mit Pflegebedarf, mit den Angehörigen, sieht, wie die Wohnsituation ist, das Umfeld. 

Und das ist eine große Chance?

Ja, ganz genau. Wir haben einen riesigen Erfahrungsschatz durch diese Begegnungen in der häuslichen Umgebung. Wir erfahren viel darüber, wieviel Kraft noch da ist, ob die Menschen alle Hilfsmittel haben, die ihnen zustehen. Meiner Erfahrung nach ist es doch so: Vielen Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen fehlt Zeit und Kraft sich genau zu informieren. Viele Menschen wissen nicht, dass ihnen ein Rollstuhl zusteht, dass sie eine Rehabilitation beantragen könnten. 

Ich denke, wenn wir schon mal da sind, dann sollten wir auch beraten. Ich bewundere unsere Pflegefachkräfte! Sie sind sehr erfahren und haben einen richtig guten Blick. Und wenn uns etwas auffällt, sollten wir mutig und klar sagen: „Denk dran, du musst dich auch um deine Gesundheit kümmern. Hast du schon mal an eine Reha gedacht?“ Die Pflegegradbegutachtung ist die Pflicht des MDkurz fürMedizinischer Dienst, die Beratung die Kür!

Das heißt, Sie wünschen sich, dass der MD zugleich berät?

Ja, wenn wir schon mal sind, dann sollten wir auch beraten. Wenn ich sehe, hier gibt es noch nicht mal einen Rollator, obwohl der Pflegebedürftige unsicher läuft, dann weist eine umsichtige Gutachterin darauf hin. Mangelnde Zeit darf kein Argument sein, auch wenn eine Stunde zur Begutachtung knapp ist. Eine rechtzeitige und umfassende Beratung sorgt für Lebensqualität und spart Kosten.

Wir Patientenvertreter erwarten, dass unsere Pflegefachkräfte Zeit für die Beratung haben und sie ihre konkreten Vorschläge auch im abschließenden Gutachten festhalten. Also hier den deutlichen Hinweis geben, dass eine Reha angebracht scheint. Dann weiß die Pflege- und Krankenkasse Bescheid, unbürokratisch.

2020 wurde der MD reformiert, was hat sich seitdem geändert?

Der MDkurz fürMedizinischer Dienst heute ist komplett unabhängig von den Krankenkassen. Im Verwaltungsrat sitzen neben 16 Vertreterinnen und Vertretern der Kassen fünf Patientenvertreter. Sehr gut vertreten ist auch der VdK. Der gesamte Verwaltungsrat bedauert es, dass die Vertreterin der Ärzteschaft und der Vertreter der Pflege im Verwaltungsrat kein Stimmrecht haben. Ich wurde als Patientenvertreter 2020 in geheimer Wahl zum alternierenden Vorsitzenden gewählt. Das ist ein Novum in Deutschland.

In allen anderen Bundesländern stellen Vertreter der Krankenkassen den Vorsitz. Fünf stimmberechtigte PatientenvertreterInnen im Verwaltungsrat sind ein Gewinn für dieses Gremium. Neben den von den Krankenkassen benannten VertreterInnen bringen sie in den Verwaltungsrat ihre Erfahrungen ein als Senioren-, SelbstvertreterInnen oder aus der Verbraucherberatung. So kommen wir gemeinsam zu vernünftigen Lösungen.

Weil ich weiß, dass die Menschen immer älter werden, viel von ihnen alleine leben und es den „klassischen Hausarzt“ immer seltener gibt, ist mir abschließend wichtig:

Die aufsuchende Begutachtung und Beratung durch die ExpertInnen des MDkurz fürMedizinischer Dienst ist ein Schatz. Sie wissen, wie es den Menschen geht und was sie brauchen.

Das Gespräch führte Julia Nemetschek-Renz

Zur Person

Jurist Hubert Seiter ist ehrenamtlich alternierender Vorsitzender des Verwaltungsrats des Medizinischen Dienstes Baden -Württemberg. Davor war er Erster Direktor der Deutschen Rentenversicherung des Landes und ehrenamtlich 30 Jahre Vorsitzender des Krebsverbands Baden-Württemberg.