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„Wir spielen mal gemeinsam die Möglichkeiten durch“

Von: Julia Nemetschek-Renz

Der erste hat heute früh um sieben auf den AB gesprochen, danach neun weitere Menschen, alle brauchten sie seinen Rat. Einer war gerade zum persönlichen Gespräch da, zwei warten im Wartezimmer, mit fünfen hat er schon telefoniert und jetzt klingelt das Telefon wieder. Es ist zehn Uhr morgens, VdK-Sprechstunde in Ubstadt. Der Kreisvorsitzende Reinhold Gsell lächelt hinter seinem Schreibtisch, lehnt sich zurück und sagt: „Heut‘ ist es eher ruhig.“

Beratungsgespräch bei VdK: Herr Gsell sitzt mit einer Frau am Tisch, sie sind ins Gespräch vertieft.
Zuhören, beruhigen, erklären. Wissen teilen. Reinhold Gsell in seiner Sprechstunde in Ubstadt. © VdK/Julia Nemetschek-Renz

150 Telefonate führt er in der Woche, 20 persönliche Beratungsgespräche an fünf Tagen: Rentenanträge, Pflege, Schwerbehinderung, Probleme mit der Krankenkasse. Das sind die Themen. Mittwoch und Freitag ist auch Sozialrechtsreferent Dr. Silvan Siefert in Ubstadt, zur Außensprechstunde und übernimmt alle Fälle, für die ein Jurist gebraucht wird.

VdK-Sprechstunde in Ubstadt

Reinhold Gsell schaut ins Wartezimmer, ruft eine Dame auf: „Bei Ihnen geht‘s um eine Rentenauskunft?“ Gsell wirft einen kurzen Blick auf Rentenbescheid und Schwerbehindertenausweis. „So“, er lehnt sich zurück, lächelt und sagt: „Wir spielen jetzt mal gemeinsam Ihre Möglichkeiten durch“. 

Es wird darum gehen, ob ihre 60 Prozent Schwerbehinderung wohl bestehen bleiben bis zum möglichen Rentenbeginn, denn dann könnte sie früher in den Ruhestand gehen. Nach einer Krebserkrankung schleppe sie sich morgens auf allen vieren zur Arbeit, erzählt sie.  Sie will sich aber auch nicht ständig krankmelden, hat ein schlechtes Gewissen den Kolleginnen gegenüber. Sie arbeitet als Krankenschwester, 41 Jahre schon und kann nicht mehr. Ihr aktueller Rentenbescheid sagt: 850 Euro. „Füße ruhig halten, nicht kündigen, das mit dem früheren Renteneintritt könnte klappen“, sagt Reinhold Gsell.

Kreisvorsitzender Reinhold Gsell berät vielfältig

Gelernt hat er bei der AOK, war dort Schwerbehinderten-Obmann, dann 16 Jahre Bürgermeister in Forst, ehrenamtlicher Richter am Sozialgericht und ist seit 2018 VdK-Kreisvorsitzender von Bruchsal. Das Telefon klingelt. Elisabeth Knebel steht in der Tür, in der Hand eine Rückrufliste. Sie ist Kreisfrauenbeauftragte und hilft hier zweimal in der Woche aus, übernimmt das Telefon, wenn Gsell persönlich berät. Die Rückrufliste arbeitet er immer sofort ab. Niemand wird verloren gehen.

Reinhold Gsell sitzt an seinem Schreibtisch, einen Stift in der rechten Hand und den Telefonhörer in der linken am Ohr.
Einen Rückruf von Reinhold Gsell bekommt jeder. Das ist Ehrensache. © VdK/Julia Nemetschek-Renz

„Sie haben angerufen, ja? Um was geht es? Ärger mit der Krankenkasse?“ In fast allen der über 1000 VdK-Ortsverbände im ganzen Land bieten Ehrenamtliche solche Sprechstunden an. In den VdK-Geschäftsstellen, wie hier in Ubstadt, in Rathäusern, Bürgerämtern oder privat im Wohnzimmer. Sie lotsen durch den Dschungel aus Paragraphen, helfen beim Rentenantrag oder der Grundsicherung im Alter. Alles, was keinen juristischen Rat braucht, übernehmen die Ehrenamtlichen direkt vor Ort.

„Altersarmut bewegt die Leute stark“

Und der Bedarf steigt. Aber das sei ja klar, sagt Reinhold Gsell, den Telefonhörer noch in der Hand. „Finanziell haben die Menschen zunehmend Sorgen. Altersarmut bewegt die Leute stark.“ Und jetzt kämen auch die ersten Fragen der Babyboomer zur Rente. „Die Fachärzte schicken uns die Menschen, die Betriebsräte, die Reha-Einrichtungen und die Schwerbehindertenvertretungen.“ Logisch, und dann klingelt eben in Ubstadt das Telefon. Weil die Rente nicht durchging, der Grad der Schwerbehinderung aberkannt wurde, die Krankenkasse den Rollstuhl nicht zahlen will. 

Jetzt hat eine ältere Dame einen Termin, ihre Krücken lehnen neben ihr an der Tischseite. Sie ist krankgeschrieben, arbeitet im Lager und kann nicht mehr. Reinhold Gsell hört zu, erklärt die Fakten und die Rechtslage und sagt: „So, wir spielen jetzt mal gemeinsam die Möglichkeiten durch.“ Er erklärt. Holt für eine Frage den Juristen Dr. Siefert dazu, hört zu, erklärt weiter und erhebt sich erst vom Tisch, als die Dame beruhigter ist. 

Ein jüngerer Mann mit schwarzer Schirmmütze hat den nächsten Termin. Er leidet an einem Tinnitus. Jahrelang schon. Es geht um seinen Antrag auf eine Schwerbehinderung. Er pflegt seine Mutter, ist gesetzlicher Vormund seines Vaters und gerade fertig mit der Welt. Er sei nur noch gereizt. Reinhold Gsell hört zu, nickt, sagt: „Wenn was ist, melden Sie sich!“

Elisabeth Knebel hat die nächste Rückrufliste in der Hand. Schaut ins Wartezimmer, in dem noch ein Mann sitzt. „Heut‘ ist eher ruhig, oder?“