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Mehr als Schreddern – die letzte Reise sensibler Dokumente

Von: Rebecca Schwarz

Gesundheitsdaten, Arztberichte, persönliche Dokumente und vieles mehr – in den VdK-Beratungsstellen lagern tausende Akten, die tief in das Leben der Menschen blicken lassen. Doch was passiert mit diesen sensiblen Informationen, wenn ihre Aufbewahrungsfrist endet? Hier beginnt die letzte Reise der Daten: sorgfältig gesammelt in silbernen Metallcontainern, bereit zur fachgerechten Vernichtung. Im Raum Südbaden führt ihr weiterer Weg zur Lebenshilfe Offenburg-Oberkirch-Lahr e.V., einem ganz besonderen Dienstleister.

Gruppenfoto des Teams der Aktenvernichtung in Offenburg, sie stehen vor dem Gebäude der Aktenernichtung und lächeln in die Kamera.
Das Team der Aktenvernichtung in Offenburg kennt sich mit allen Arten von Daten aus! Hier zu sehen: Jessica F., Pasqual M., Karim B., Jonas L., Kai B., Vitali B., Sandra A., Gudrun V., Raphael B. (v.l.n.r.). Es fehlen: Lukas A., Katja B., Selcuk D., Pascal D., Markus F., Christian R., Michelle B. und Peter S. © Rebecca Schwarz/VdK

Datenschutz trifft Inklusion

Ein typisches Gewerbegebiet im Nordwesten von Offenburg markiert die letzte Station der VdK-Akten. Denn hier befindet sich die Externer Link:Aktenvernichtung der ASW+W gGmbH, einem Unternehmen der Externer Link:Lebenshilfe. In ihren Werkstätten beschäftigen sie Mitarbeiter mit starken Behinderungen im zweiten Arbeitsmarkt – ganz nach deren Möglichkeiten. 

Die Aktenvernichtung ist somit nur eine von vielen Dienstleistungen der ASW+W. Jeden Morgen ab 7 Uhr kehrt hier langsam Leben ein. Eigentlich beginnt die Besprechung erst eine Stunde später, doch viele der dreizehn Mitarbeiter sind gerne schon früher da. Auch mit den Pausen nehmen es die vier Frauen und neun Männer nicht so genau. Gruppenleiter Raphael Busam muss seine Mitarbeiter regelmäßig an ihre Pausenzeiten erinnern – sonst würden sie einfach durcharbeiten. 

„Ich muss definitiv niemanden zur Arbeit motivieren“, scherzt Busam im Gespräch mit der VdK-Zeitung. Der 30-Jährige ist gelernter Externer Link:Arbeitserzieher kommt aus Oberkirch. Seit zweieinhalb Jahren ist er bei der Lebenshilfe tätig. In dieser Zeit hat sich die anfallende Arbeit vermehrt gewandelt. Bei den Daten geht es immer öfter weg von Papier und hin zum Digitalen.

Geschreddertes Papier in Ballen gepresst
Im Keller lagert das Endprodukt der analogen Papierdaten, die geschredderten Papierschnipsel. Ein Ballen wiegt rund 350 Kilo. © Rebecca Schwarz/VdK

Daten in analog und digital

Die sensiblen Daten gehen in der Aktenvernichtung also nicht nur den Weg zu harmlosen Papierkonfetti. Die Arbeit ist vielfältiger – denn die Daten befinden sich auf vielen verschiedenen Trägern: CDs, Smartphones, USB-Sticks, Festplatten, Tablets, Videobänder und Plastikkarten wie Ausweise oder Kreditkarten. Die Datenvernichtung und -löschung muss natürlich immer datenschutzkonform stattfinden. Als zertifizierter Dienstleister finden hierfür auch einmal im Jahr Schulungen für alle Mitarbeiter statt.

„Die USB-Stick-Vernichtung nimmt bei uns zu“, weiß Busam. „Doch die Festplattenvernichtung macht den Mitarbeitern am meisten Spaß. Also den Rechner aufschrauben, die Festplatte entnehmen. Das ist der Höhepunkt für die Mitarbeiter!“ Ist die Festplatte erst einmal draußen, kommt es ganz darauf an: HDD-Festplatten werden durch ein Magnetfeld zerstört. Für SDD-Festplatten gibt es einen eigenen Elektronik-Schredder. 

Der Lithium-Akku in Tablets und Smartphones macht die Vernichtung etwas schwieriger. Hier trifft Busam deswegen alle Vorbereitungen alleine und übergibt erst nach dem Auseinanderbauen an seine Mitarbeiter. Aber auch an den anderen Stationen arbeitet er als Gruppenleiter täglich selbst mit. Das trägt zum Teamgefühl sowie zur guten und lockeren Stimmung bei. 

„Morgens überprüfe ich, ob alle Arbeitsbereiche abgedeckt sind. Hier ist es wichtig, dass alle Mitarbeiter entsprechend Abwechslung haben“, erklärt Busam und ergänzt: „Vitali möchte übrigens unbedingt zeigen, wie er die Plastikkarten schreddert.“ Fast wie ein Zeichen erklingt ein lautes Glockenläuten. Die Pause ist vorbei. Die Mitarbeiter sollten jetzt wieder zu ihrer Arbeit zurückkehren. 

Die Büroräume und die Aktenvernichtung sind getrennt voneinander in dem mehrstöckigen Massivbau in der Eckenerstraße untergebracht. Eine stabile Verbindungstür im Flur versperrt den Durchgang, an ihr prangen verschiedene Hinweisschilder: Sensible Daten, keine Fotos erlaubt. Mit einer Zugangskarte verschafft Busam sich zutritt und führt uns durch einen langen Flur mit hohen Decken vorbei an den Papierschreddern. Von dort fällt das Papier direkt in die Presse im Keller.

Durch eine zweite Tür gelangen wir in einen großen, offenen Fabrikraum. Nachträglich eingebaute Zwischenwände aus OSB-Platten teilen den Raum in verschiedene Abschnitte. Es herrscht reges Treiben: An einem großen Schreibtisch sitzen mehrere Mitarbeiter, jeder von ihnen einen aufgeschlagenen Ordner vor sich. Nach und nach entnehmen sie die einzelnen Blätter. Heftklammern und Folien werden sorgfältig entfernt. Viele weitere Ordner stapeln sich auf dem Tisch. Drumherum die bekannten, silbernen Aktencontainer. Ob wohl auch einer aus der VdK-Beratungsstelle dabei ist?

Doch der Reihe nach: Erst einmal führt uns Busam zur digitalen Datenvernichtung. Das Besondere hier ist übrigens, dass die Lebenshilfe den Kunden bei Bedarf die Produktnummern von den Festplatten zur Verfügung stellt. Eine zusätzliche Sicherheit – kämen die Festplatten wieder in Umlauf, hätten die Kunden einen Nachweis darüber, wann und wo die Produkte zerstört wurden. Busam: „Das ist unser Alleinstellungsmerkmal. Andere Dienstleister bieten das nicht an.“

Stapelweise Odner auf einem Schreibtisch, davor steht ein Mann, der die Ordner auseinandernimmt.
Bei der Lebenshilfe stapeln sich die Ordner – diese werden komplett auseinandergenommen und in ihre Einzelteile zerlegt. © Rebecca Schwarz/VdK

Auf der rechten Seite des Raums ist ein Mitarbeiter gerade damit beschäftigt, die einzelnen Metallteile von einem Ordner zu entfernen. Hierfür gibt es eine extra Vorrichtung. Busam erklärt, dass die Ordner von ihnen sehr gerne angenommen werden. Denn die Arbeit macht allen viel Spaß und zusätzlich können weitere Materialien generiert und verkauft werden. 

Nach einer ersten Verunsicherung über den fremden Besuch ist der Mitarbeiter gerne bereit, einen weiteren Ordner auseinanderzunehmen. Gewissenhaft führt er die einzelnen notwendigen Arbeitsschritte vor. Danach geht es an den Entmagnetisierer: Ein silberner Kasten, der durch eine Art Kurbel in Gang gesetzt wird. Doch zunächst schiebt der Mitarbeiter die HDD-Festplatte hinein, dann dreht er an der Kurbel. Das Ganze dauert nicht einmal 20 Sekunden, danach ist die Festplatte Geschichte und wandert in die Tonne.

Inzwischen ist Vitali dazu gestoßen. Aufgeregt wartet er darauf, die Schredder zu bedienen. Davon gibt es zwei Stück: Einen für elektronische Produkte und einen für Plastikteile. Während Vitali mehrere Plastikkarten in den größeren Schredder wirft, erklärt er, wie wichtig es ist, dass immer die richtigen Teile in den dafür vorgesehenen Schredder kommen. 

Ein Mann steht an einem Schredder und zeigt, wie dieser funktioniert.
Vitali B. zeigt, wie er die Plastikkarten schreddert. © Rebecca Schwarz/VdK

Im hinteren Teil des großen Raums befindet sich noch ein abgetrennter Bereich. Hier gibt es keine Schredder – dafür jedoch mehrere Arbeitsplätze mit einem eigenen Scanner. Eine Mitarbeiterin ist gerade damit beschäftigt, einen Ordner zu digitalisieren. Denn als Zusatzleistungen übernimmt die Lebenshilfe die Archivierung, Digitalisierung sowie auch Einlagerung von Akten. Einige Kunden liefern täglich Unterlagen fürs Archiv. Hierfür wurde das Wohnheim der Lebenshilfe in Offenburg komplett unterkellert: Dort reihen sich Akten an Akten, insgesamt 12 Kilometer an Daten!

Der Rundgang führt schließlich noch in den Keller des Gebäudes. Dort lagert das Endprodukt der analogen Papierdaten, die geschredderten Papierschnipsel – von der Presse zu rechteckigen Ballen komprimiert. Ein Ballen wiegt rund eine Tonne. 

Zwischen Akten und Alltag

Doch die Beschäftigung bei der Lebenshilfe umfasst mehr als nur Arbeit. Im ersten Obergeschoss befindet sich unter anderem die Kantine, ein Caterer liefert täglich das Essen für die Mittagspause. Mitarbeiterin Gudrun ist Anfang 60 und schon am längsten dabei. Erst kürzlich feierte sie ihr 35-jähriges Jubiläum. Sie achtet unter anderem darauf, dass bei der Essensausgabe alles richtig läuft. 

Gudrun V. (links) steht neben Raphael Busam (rechts), beide lächeln in die Kamera.
Gudrun V. (links) ist am längsten dabei. Rechts: Raphael Busam. © Rebecca Schwarz/VdK

„Die Lebenshilfe deckt alle Lebensbereiche ab. Also Alltag, Arbeit, Pflege. Das nennt sich ambulantes betreutes Wohnen. Eine begleitende Elternschaft gehört auch dazu“, erklärt Busam. Hierfür steht im ersten Obergeschoss die Kinderbetreuung zur Verfügung. Busam: „Wir können hier individuell auf jeden einzelnen Menschen eingehen.“

Im Wohnheim der Lebenshilfe wohnen übrigens nur zwei der Beschäftigten aus der Aktenvernichtung. Die anderen Mitarbeiter wohnen alleine, werden aber engmaschig betreut. Doch die Wohnungssuche gestaltet sich besonders schwierig. „Viele Menschen mit Behinderung sind bewegungsmäßig eingeschränkt und der barrierefreie Wohnraum ist knapp“, führt Busam aus.

Zum Glück ermöglicht die Lebenshilfe eine Eins-zu-eins-Betreuung – auch bei der Arbeit. Das ist Busam besonders wichtig: „Das ist das Wunderschöne hier. Jeder kann immer zu mir kommen.“ Deswegen kennt Busam die Stärken und Schwächen von jedem Mitarbeiter ganz genau. Das ist auch für die Vermittlung von Praktika auf dem ersten Arbeitsmarkt von Bedeutung. Diese vermittelt der Sozialdienst. „Zwei unserer Mitarbeiter sind regelmäßig in einer anderen Firma als Lagerarbeiter tätig. Einer von ihnen kann wohl demnächst komplett übernommen werden“, freut sich Busam. 

Das Problem ist jedoch: Sobald die Mitarbeiter auf dem ersten Arbeitsmarkt beschäftigt sind, fallen die Förderungen weg. „Das Landratsamt übernimmt dann zum Beispiel nicht mehr die Kosten für die Betreuer, auf die viele Menschen mit Behinderung angewiesen sind. Das macht einen Arbeitsplatzwechsel dann leider unmöglich. Dennoch bleibt es für uns das oberste Ziel – wieder auf dem ersten Arbeitsmarkt Fuß zu fassen!“, bekräftigt Busam.