Kategorie Gesundheit

Leben an der Akkugrenze

Von: R. Schwarz

Neue britische ME/CFS-Leitlinie räumt mit aktivierenden Therapien auf

Nicht selten, dafür aber unbekannt: Das trifft auf die Myalgische Enzephalomyelitis/das Chronische Fatigue-Syndrom (ME/CFS) zu. Hierbei handelt es sich um eine schwere neuroimmunologische Erkrankung, die oft mit einem hohen Grad körperlicher Behinderung einhergeht. In Deutschland sind davon etwa 250.000 Menschen betroffen, weltweit sogar ca. 17 Millionen. Die bisherigen Behandlungsempfehlungen, etwa aus der Leitlinie der AWMF, führten zu fehlerhaften Diagnosekriterien, zu einem falschen Krankheitsverständnis und zur Anwendung falscher Therapien. Hierunter fallen körperliches Aufbautraining und kognitive Verhaltenstherapien, welche die Symptome der Menschen mit ME/CFS sogar verschlechtert haben, anstatt ihren gesundheitlichen Zustand zu verbessern. Die neue britische ME/CFS-Leitlinie sorgt endlich für eine Kehrtwende.

Junger Mann im Bett liegend, neben ihm ein Geschörschutz sowie eine Augenbinde, im Hintergrund ist ein Rollstuhl zu sehen
Geräusch- und Lichtempfindlichkeit sind Symptome von ME/CFS. © Lea Aring

Neu ist ME/CFS nicht: Literaturbelege aus der Medizin reichen 100 Jahre zurück. Mit dem Namen Myalgische Enzephalomyelitis ordnete die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Erkrankung im Jahr 1969 als neurologisch ein. Durch die WHO beobachtete Symptome waren Muskelschwäche, Fieber und kognitive Probleme sowie Rückfälle nach jeglicher Form von Anstrengung. Seit den 80er Jahren auch als Chronisches Fatigue-Syndrom (CFS) bezeichnet, lag der Fokus fortan auf der damit verbundenen Müdigkeit bzw. Erschöpfung. Ein Symptom, das aber auch bei vielen anderen Krankheiten wie z. B. Depression, Krebs oder Multiple Sklerose auftreten kann.

Verbunden mit den weit gefassten Diagnosekriterien für ME/CFS, führte dies in den darauffolgenden Studien zu einer fehlerhaften Bewertung des körperlichen Aufbautrainings und der kognitiven Verhaltenstherapie. Torben Elbers, Sprecher der Deutschen Gesellschaft für ME/CFS, erklärt: „Die reine Fokussierung auf Fatigue führte dazu, dass an vielen Studien auch Menschen mit anderen Erkrankungen, für die eine Bewegungs- und Verhaltenstherapie nachweislich gut ist, teilnahmen. Die Ergebnisse wurden sozusagen verwässert.“ Das heutige Kernsymptom von ME/CFS, die Post-Exertional Malaise, musste zur Diagnose gar nicht erfüllt sein.

In Bezug auf die Symptome zur Diagnose von ME/CFS sind aktuell die Kanadischen Konsenskriterien am verbreitetsten. Im Mittelpunkt steht die Post-Exertional Malaise. „Dies erklärt auch, warum zum Beispiel eine Aktivierungstherapie kontraindiziert ist und für alle Erkrankte mit einer Verschlechterung des Gesundheitszustandes einhergeht“, führt Elbers aus. „Aber das ist im ersten Moment nicht ersichtlich, da es verzögert, also zwei bis drei Tage später, auftritt. Das macht es für die Erkrankten natürlich schwer, den Zusammenhang herzustellen.“

Am 29. Oktober 2021 veröffentlichte das National Institute for Health and Care Excellence (NICE) die neue britische ME/CFS-Leitlinie. Für diese bewertete NICE die gesamte Studienlage neu. Hinsichtlich der Evidence der bislang empfohlenen aktivierenden Behandlung, bewerteten sie alle 236 Ergebnisse aus Studien mit „sehr niedrig“ oder „niedrig“. Für die Wirksamkeit von körperlichem Aufbautraining und kognitiven Verhaltenstherapien gibt es somit keinen wissenschaftlichen Beweis.

Die Leitlinie bewertet Elbers als einen Durchbruch, „da keine Therapien mehr empfohlen werden, die den Gesundheitszustand zusätzlich verschlimmern.“ Aber es gibt auf der anderen Seite auch keine Erkenntnisse zu neuen hilfreichen Therapien. Das heißt, aktuell können nach wie vor nur die Symptome von ME/CFS – beispielsweise Schlafstörungen, das Reizdarmsyndrom oder Schmerzen – mit entsprechende Medikamente behandelt werden. Nach wie vor gilt: Die Krankheit an sich ist noch nicht therapierbar.

Innerhalb der eigenen Energiegrenzen bleiben

Daher probieren die Erkrankten selbst aus, was ihnen hilft – wissenschaftliche Studien hierfür gibt es jedoch nicht. „Das einzige, was auch nach der neuen britischen ME/CFS-Leitlinie empfohlen wird, ist das sogenannte Pacing, also Energiemanagement“, so Elbers. Hierbei achten die Betroffenen darauf, innerhalb ihrer eigenen Energie- und Belastungsgrenzen zu bleiben, um die Post-Exertional Malaise zu verhindern.

Das ist jedoch nicht immer möglich, beziehungsweise hängt vom Grad der Erkrankung ab. „Selbst eine leichte Form von ME/CFS kann eine körperliche Einschränkung von 50 Prozent bedeuten“, führt Elbers aus: „Bei den sehr schweren Fällen lösen bereits geringste Aktivitäten eine Post-Exertional Malaise aus. Selbst der Gang zur Toilette oder die Nahrungsaufnahme können einen Crash auslösen. Das kann dazu führen, dass Betroffene das Bett nicht mehr verlassen können oder sogar künstlich ernährt werden müssen. Andere wiederum haben im Alltag keine Hilfe, müssen selbst kochen und einkaufen, was wiederum einen Crash auslösen kann. Daher ist Pacing für manche Erkrankte nicht möglich.“

Frau im Rollstuhl sitzend, ihr Blick ist nach unten gerichtet, sie trägt einen Gehörschutz
Gehen, Zähneputzen, Duschen – die tägliche Routine wird für Menschen mit ME/CFS zur Tortur. © Lea Aring

Dennoch sorgt die Hinwendung zum Pacing in der neuen ME/CFS-Leitlinie für einen kleinen Hoffnungsschimmer. Gerade in der Frühphase der Erkrankung sei es wichtig, auf die Energiegrenzen zu achten, um schwere Verläufe zu verhindern. Obwohl hierzu Daten vorliegen, ist diese Vermutung jedoch schwer zu erforschen. Erschwerend kommt hinzu, dass bis zur Diagnose ME/CFS meist Jahre vergehen. „Bis dahin versuchen die Menschen weiter zu arbeiten und auch Sport zu machen. Dadurch verschlechtern sie ihren Zustand jedoch immer weiter, bis sie teilweise gar nicht mehr arbeiten können“, so Elbers.

Ein Diagnoseproblem ist der fehlende Biomarker, durch den man anhand einer Blutuntersuchung auf ME/CFS schließen könnte. Da auch die genaue Ursache von ME/CFS weiterhin unbekannt ist, werden viele Betroffene von ihren Ärztinnen und Ärzten nicht ernst genommen. Bekannt ist lediglich, dass diese Erkrankung häufig nach einer Infektionskrankheit, wie dem Epstein-Barr-Virus oder der Influenza beginnt.

Auch einige an Long-COVID Erkrankte erfüllen nach sechs Monaten die Kanadischen Konsenskriterien und entwickeln eine Post-Exertional Malaise. Prof. Carmen Scheibenbogen, Leiterin der Immundefektambulanz der Charité Berlin, untersuchte Long-COVID-Betroffene, von denen die Hälfte an ME/CFS litt. Wie groß der Anteil aller an COVID-19 erkrankter Menschen sein wird, ist noch nicht abzusehen. Prof. Scheibenbogen schätzt, dass zehn bis zwanzig Prozent der Menschen mit Long-COVID an ME/CFS erkranken. „Hochgerechnet auf die Zahl aller COVID-19-Fälle ist das eine riesige Gruppe“, fürchtet Elbers, „vor allem, wenn man bedenkt, dass der Grad der Behinderung, der mit ME/CFS einhergeht, sehr hoch ist. 60 Prozent der Erkrankten sind berufsunfähig, ein Viertel von ihnen kann das Haus nicht mehr verlassen, sind bettlägerig oder auf Pflege angewiesen.“

Wie ME/CFS und Long-COVID zusammenhängen, wird sich wahrscheinlich erst in einigen Jahren zeigen. Die Initiative Long COVID Deutschland und die Deutsche Gesellschaft für ME/CFS führten jedoch bereits vor den Koalitionsverhandlungen Gespräche mit den Gesundheitspolitikern der jeweiligen Parteien – mit Erfolg! Zur weiteren Erforschung und Sicherstellung einer bedarfsgerechten Versorgung rund um die Langzeitfolgen von COVID-19 und ME/CFS möchte die Bundesregierung Kompetenzzentren und interdisziplinären Ambulanzen schaffen. Es ist an der Zeit: Aktuell stehen für 250.000 ME/CFS-Erkrankte deutschlandweit nur zwei Ambulanzen zur Verfügung.

Zeitlich verzögert

Für ME/CFS ist die Post-Exertional Malaise charakteristisch. Bereits geringe körperliche oder geistige Anstrengung, aber auch positive oder negative Gefühle nach emotionalen Ereignissen, führen hierbei innerhalb von 48 bis 72 Stunden zu einer Verschlechterung des allgemeinen Zustands. Dies äußert sich bei den Betroffenen durch ausgeprägte Schwäche, Muskelschmerzen und grippale Symptome. Gehen, Zähneputzen, Duschen – die tägliche Routine wird zur Tortur.

Mögliche Symptome von ME/CFS

  • Post-Exertional Malaise (PEM)
  • Krankhafte Erschöpfung oder Schwäche
  • Probleme mit dem Kreislauf in aufrechter Position
  • Neurokognitive Symptome wie Konzentrations- und Wortfindungsstörungen
  • Neurologische Symptome wie Geräusch- und Lichtempfindlichkeit
  • Schwächung des Immunsystems
  • Immunologische Symptome, z. B. Grippegefühl und schmerzende Lymphknoten
  • Schlafstörungen
  • Muskelschmerzen, Faszikulationen und Krämpfe
  • Kopfschmerzen und Sehstörungen

Für Ärztinnen und Ärzte

Für ME/CFS und Long COVID stehen verschiedene On-Demand Fortbildung zur Verfügung. Externer Link:Mehr Informationen gibt es bei der Deutschen Gesellschaft für ME/CFS!