Kategorie Behinderung Behinderung im Job

Gute Ideen, Wohlwollen und der richtige Platz

Von: J. Nemetschek-Renz

Unterwegs mit VdK-Mitglied Renate Lüdke – sie hat eine Hörbehinderung und arbeitet im Verkauf

Und plötzlich hörte sie nur noch wenig. „Kannst du mal schnell ans Telefon gehen?“ hatten ihre Eltern sie vor 20 Jahren gebeten und Renate Lüdke dachte nur: „Warum denn, das hat doch gar nicht geklingelt?“ 42 Jahre ist sie da alt und stellvertretende Marktleiterin bei ALDI SÜD: Teammeetings, telefonische Reklamationen, Kundengespräche und wie sollte sie denn jetzt die Kassenklingel hören?

Renate Lüdke in den Gängen des Supermarkts beim Verräumen der Ware.
Glücklich mitten im Trubel – Renate Lüdke wurde 2023 vom Deutschen Handelsverband als „Gesicht des Handels“ geehrt. © J. Nemetschek-Renz/VdK

Heute ist Renate Lüdke noch immer bei ALDI SÜD, steht mitten im Trubel mit ihrer schweren Hörbehinderung und ist sehr glücklich dabei. Was lässt diese Integration gelingen? Eine Geschichte über gute Ideen, Offenheit unter Kolleginnen und darüber, dass der Arbeitsplatz zum Menschen passen muss und nicht umgekehrt.

Seit 1985 ist die gelernte Sekretärin bei ALDI SÜD, sie hatte sich damals als Assistentin eines Bankdirektors entsetzlich gelangweilt, ein Aldi lag gegenüber der Wohnung ihrer Eltern. Am ersten Arbeitstag war ihr klar: Das ist es! Unter Menschen sein, immer in Kontakt, kein Tag wie der andere.

Und dann kam die schwere Grippe und die Hörbehinderung. „Erstmal habe ich das gar nicht wahrhaben wollen,“ erzählt die 62-Jährige und schüttelt lächelnd ihren Kopf. Sie machte einfach weiter, als wäre nichts. Doch ihr passieren Fehler. Und sie hasst Fehler. Einmal bekommt sie einen Anruf der Regionalleitung, sie solle doch bitte alle Damenschuhe zurücksenden. Sie packt 300 Paar Schuhe ordentlich in Kisten, macht sich viel Arbeit. Und hat wenig später den völlig verblüfften Regionalleiter am Telefon: „Ich wollte doch nur die weißen Schuhe zurück!“ Das „weiß“ hatte sie nicht gehört. 

Oder dann, als sie die Alarmanlage abends scharf stellen wollte, es nicht klappte und sie den schwäbisch schwätzenden Mann am Notdiensttelefon nicht verstand. „Ich hätte nur den Reset-Knopf drücken müssen,“ sagt sie „und so musste der arme Mann dafür extra kommen. Um einmal auf den Knopf zu drücken.“

Sie entscheidet sich für Hörgeräte und dafür, die stellvertretende Marktleitung aufzugeben. Ihre Vorgesetzten wollen sie unbedingt in der Führungsposition halten. Aber sie möchte nicht und findet ihren Platz wieder an der Kasse, im Lager, an den Regalen und mittendrin im Team.

Heute sind ihre Hörgeräte weit besser als damals, doch Menschen, die Dialekt sprechen, zu leise, zu laut oder zu schnell reden, versteht Renate Lüdke noch immer nicht gut. Sie hat einen Grad der Behinderung von 80 Prozent. Ohne ihre Hörgeräte könnte sie nur hören, dass jemand spricht, keine Worte erkennen und verstehen.

„Jeder Mensch geht doch mit einem anderen Päckchen ins Rennen,“ sagt Thomas Jacklofsky, Filialleiter der ALDI SÜD Filiale in Rauenberg. 13 Frauen und vier Männer hat er in seinem Team, Renate Lüdke mittendrin. Und es sei doch völlig logisch, dass Menschen mit Behinderung auch auf den ersten Arbeitsmarkt gehörten!

Doch das Wichtigste sei dabei immer, dass der Mensch glücklich ist, mit dem was er tut. „Der Arbeitsplatz muss zum Menschen passen, so rum. Nicht umgekehrt.“ Und so haben sie ihn passend gemacht, den Arbeitsplatz in Rauenberg. 

Das Problem mit der Kassenklingel, die Renate Lüdke fürchtete nicht hören zu können, war schnell gelöst: Renate Lüdke hat jetzt immer die Kasse 3 und die wird von der Kollegin an Kasse 2 angefordert. War schon immer so. Nur liegt jetzt an Kasse 2 ein kleiner Sender mit Knopf, eine sogenannte Gartenklingel. Den Empfänger trägt Renate Lüdke in ihrer Hosentasche. Und wenn die Kasse 3 geöffnet wird, hört sie einen lauten Ton, egal, wo sie gerade unterwegs ist. 

Die Kosten für die Klingel selbst und die Batterien übernimmt das Versorgungsamt.

Klar, manchmal komme es vor,  dass sie einen Kunden nicht gleich versteht. Einmal hat sie einen Mann, der auf der Suche nach Butter war, zum Zucker geschickt, erzählt sie. Aber solche kleinen Missverständnisse seien eigentlich nie ein Problem gewesen. „Fast alle Menschen sind doch sehr geduldig und mit den Stammkunden ist es sowieso sehr nett.“

Renate Lüdke arbeitet an der Kasse
Renate Lüdke liebt die Konzentration an der Kasse: Alle Nummern fürObst, Gemüse und Backwaren weiß sie auswendig. © J. Nemetschek-Renz/VdK

Seit einigen Jahren haben sie im Team alle Headsets – Kopfhörer, die Renate Lüdke ja nicht tragen kann, sie hat ja schon ihre Hörgeräte in den Ohren. Über die Headsets sprechen sie miteinander, jeder hört jeden. Über die Headsets kommen auch die Infos des Teamleiters. Nur Renate Lüdke hört sie nicht. Da haben sich wieder alle zusammen gesetzt und miteinander gesprochen. Wie können wir das schaffen? Was ist machbar?

Und die Lösung ist denkbar einfach:

Kommt eine Info für Renate Lüdke über die Headsets, läuft eine Kollegin schnell los und sucht sie. Ruft nicht laut durch die Gänge, sondern geht direkt zu ihr hin und gibt die Info weiter. So wie jetzt. Nutella muss aufgefüllt werden. „Renate, könntest du?“ Klar, sie kann.