Kategorie Barrierefreiheit

„Ich dolmetsche auch die Intention des Menschen“

Von: Julia Nemetschek-Renz

Ihre ersten Gebärden hat Tanja Lilienblum-Steck mit 13 Jahren gelernt: In ihrem Tanzschulfreundeskreis sprachen zwei gehörlose Jungs diese Sprache. Heute ist sie staatlich geprüfte Dolmetscherin für die Deutsche Gebärdensprache und beeidigte Verhandlungsdolmetscherin. Ein Gespräch mit Gebärdensprachdolmetscherin Tanja Lilienblum-Steck über gelingende Inklusion!

Tanja Lilienblum-Steck mit geballten Fäusten und ausdrucksvollem Gesichtsausdruck beim dolmetschen in Gebärdensprache.
Natürlich gebärdet Tanja Lilienblum-Steck auch die Zwischentöne, wenn sie für gehörlose Menschen dolmetscht. „Die Zwischentöne sind für eine gelingende Kommunikation entscheidend.“ © privat

Tanja Lilienblum-Steck arbeitet seit 20 Jahren in diesem Beruf und hat auch auf der SBVkurz fürSchwerbehindertenvertretung-Konferenz 2024 gedolmetscht. Im Interview erzählt sie, warum das großen Spaß macht, wieso sie immer auch die Zwischentöne übersetzt und weshalb sie die Frage danach, wie viele Gebärden sie denn so kann, natürlich nicht beantworten kann.

Warum lässt sich die Frage nach der Anzahl der Gebärden nicht beantworten?

Die Gebärdensprache ist eine Sprache wie jede andere Sprache auch: Mit eigener Grammatik, eigenen Strukturen und Worten. Wenn ich jetzt zurückfrage: Wie viele lautsprachliche Worte haben Sie? Das kann natürlich niemand beantworten. Und umso besser ich eine Sprache kann, umso besser kann ich sie sprechen. Eben nicht nur abends unter Freunden, sondern in Verhandlungssituationen oder fachlichen Gesprächen. Deshalb ist für mich auch die Vorbereitung entscheidend.

Was dolmetschen Sie und in welchen Situationen?

Ich dolmetsche für taube und hörende Menschen in und aus Lautsprache und Deutscher Gebärdensprache und werde gebucht für kulturelle Veranstaltungen, Fachvorträge, Arbeitsplatzgespräche oder Arzttermine.

Die Gebiete Recht und IT liegen mir, da bringe ich viel Wissen mit.  Aber wenn ich beispielsweise den Vortrag eines Chemieprofessors dolmetschen soll, dann muss ich mich fachlich einlesen. Doch viel wichtiger ist für mich oft, dass ich das Ziel meines Auftraggebers kenne.

Also das, was er mit dem Gespräch erreichen will? 

Ja genau. Es ist doch so: Die Zwischentöne, der Kontext, das, was ich mit meinem Gesichtsausdruck, meiner Körpersprache, meinem Blick ausdrücke, das ist doch mindestens so wichtig wie das Wort, das ich spreche. In vielen Situationen ist die Körpersprache sogar wichtiger für die Aussage als meine Worte. Das ist in der Gebärdenspräche ganz genauso. Bei Arbeitsplatzgesprächen beispielsweise ist es hilfreich, wenn ich das Ziel meines Kunden vorher kenne, zum Beispiel eine Gehaltserhöhung. Dann habe ich die Möglichkeit, den Inhalt des Gesagten zu dolmetschen, nicht nur die Worte.

Welche Gespräche sind anstrengend, welche fallen schwer? 

Simultanes Dolmetschen erfordert natürlich eine hohe Konzentration. Deshalb sind wir bei längeren Veranstaltungen immer mindestens zu zweit. Hier auf der SBVkurz fürSchwerbehindertenvertretung-Konferenz habe ich mich mit meiner Kollegin alle zehn Minuten abgewechselt. Doch das wirklich Schwere sind die inhaltlich fordernden Situationen. Eine Beerdigung zum Beispiel oder eine schlimme Diagnose beim Arzt.

Gelingt Inklusion in Deutschland?

Inklusion ist wirklich ein sehr schöner Gedanke: Jeder Mensch hat das Recht auf gesellschaftliche Teilhabe. Das ist ja ein Menschenrecht. Doch meine Erfahrung ist leider: Taube Menschen sind nicht inkludiert, sie gehören oft nicht dazu. Und das Traurige ist: Inklusion scheitert häufig am Geld. Oder auch daran, dass viele hörende Menschen denken, alle gehörlosen Menschen könnten perfekt von den Lippen lesen. Was so nicht stimmt. 

Nur ein ganz geringer Prozentsatz kann überhaupt abgesehen werden. Der Rest muss kombiniert werden. Sie können sich das vorstellen, wie einen Lückentext, mit sehr vielen und großen Leerstellen. 

Und selbst bei großen Veranstaltungen: Die Veranstaltungen zur Fußball-EM wurden nur zum Teil gedolmetscht, die Spiele überhaupt nicht. Wie viele Menschen in Deutschland da selbstverständlich ausgeschlossen waren! Oder viel brisanter: Bei rechtlichen Themen oder am Arbeitsplatz! Gehörlosen Menschen fehlen dann wichtige Informationen. 

Es fehlen Gesetze, die sicherstellen, dass taube Menschen niederschwellig nach ihrem Bedarf in allen Lebensbereichen Dolmetschleistungen erhalten können, ohne große bürokratische Hürden. 

Wenn ich Inklusion ernst nehme und nicht nur schöne Worte sprechen möchte, dann muss ich mich, muss sich jeder einzelne bewegen.

Was ist das Schöne am Gebärden-Dolmetschen?

Es ist sehr erfüllend für mich eine Brücke zu sein. Dass ich es möglich machen kann, dass gehörlose Menschen ihr Fachwissen auf Vorträgen weitergeben. Wenn ich einen guten Job mache, dann erkennen hörende Menschen, welches Potenzial gehörlose Menschen haben. Sie können nicht hören, ja, aber alles andere schon! Ich liebe es, zwischen den Kulturen zu vermitteln. Die Brücke zu sein, über die echte Kommunikation und echtes Verständnis füreinander möglich wird.